„Ich mache diesen Krach zu Musik.“ Dissy über „Bugtape“

Bugtape

Ein Abend kurz vor Weihnachten. Ich habe das Gefühl, eigentlich müsste es grade viel kälter sein, als ich vor beziehungsweise über dem Mojo Club auf der Hamburger Reeperbahn auf Dissy warte. In den Backstage-Katakomben des Untergrund-Clubs hat man natürlich keinen Empfang. Deshalb brechen jegliche versuche den Rapper und Producer, der später am Abend als Support-Act das ausverkaufte Konzert der Sängerin Mine eröffnet, zu erreichen bereits vor dem ersten Tuten in der Telefonleitung ab. Nach einigen Minuten liest der mit dem Club-Wifi verbundene Dissy dann zum Glück meine Whatsapp und lässt mich in den noch leeren Club. Im Backstage angekommen unterhalten wir uns über sein noch im Januar über Corn Dawg Records erscheinendes „Bugtape Side A“, aber auch über sein etwa ein Jahr altes Debütalbum.

 

Im Spagat zwischen Avantgarde und Mainstream, zwischen Experiment und Massentauglichkeit verbirgt sich eine der wenigen, noch immer weitgehend ungeknackten Nüsse der Musikgeschichte. Das gilt für allem für die deutsche Musiklandschaft. Alben zu erschaffen, die gleichzeitig Vorreiter und inhaltlich komplex sind, aber eben auch im Radio rauf und runter laufen, sucht man vergebens. Es heißt entweder oder. Entweder Feuilleton-Hype und Kritiker-Liebling oder großes Superstartum. Nicht wenige Künstler*innen sind an der Challenge, dieses ultimative Album zu erschaffen, früher oder später zu Grunde gegangen oder versuchen seit Jahren gewaltsam aus der Kritiker-Liebling-Bubble auszubrechen.

„Wenn ich was höre, das ich vorher noch nicht kannte, finde ich das total geil.“

„Das ist in der Musik so wie in der ganzen Gesellschaft. Alles was man noch nicht kennt, findet man erstmal scheiße. Gerade in Deutschland. Alles was wirklich künstlerisch ist und experimentell, hat es in Deutschland erstmal schwer,“ kommentiert Dissy diesen Zwiespalt, in dem er selbst auch steckt. Weitere Beispiele sind – völlig unabhängig von der jeweiligen musikalischen Ausrichtung – schnell gefunden. Da ist natürlich zunächst einmal ein Tua, der mit seinem selbstbetitelten 2019er Album den Sprung vom Szene-Liebling auf den Pop-Thron schaffen wollte. Den experimentellen Szene-Klassiker hat er bereits seit zehn Jahren in der Tasche. Doch trotz einer musikalischen Meisterleistung auf „Tua“ – im BACKSPIN Album des Monats hagelte es perfekte 10 von 10 Wertungen – reichte es nicht für Radio-Hits oder Massenaufmerksamkeit. Teile seines Publikums reagierten sogar genervt auf die Pop-Ambitionen.

Auch andersherum funktioniert das nicht so einfach, wie man meinen könnte. Als Cro nach Jahren der Dominanz auf dem deutschen Musikmarkt 2017 den berühmten Schritt nach Links wagte, kam sein bis dato mit Abstand am wenigsten erfolgreiches Album „tru“ dabei heraus – natürlich trotz fast ausschließlich positiven Kritiken. Dissy selbst steht auf der anderen Seite. Unter dem Alias dissythekid erhaschte er 2014 vor allem durch die experimentellen Eigenproduktionen, aber auch durch düstere Selbstreflexion auf der lyrischen Ebene erste Szene-Aufmerksamkeit. Musikalisch folgte dann jedoch lange nichts.

„Das Video verliert total an Bedeutung. Heute geht es viel mehr um so Fashion-Clip-Sachen.“

Stattdessen konzentriere sich der junge Erfurter auf Musik-Videos und knüpfte dadurch einige wichtige Kontakte in der Industrie. Vor allem zum Rapper-turned-Popstar Clueso, der wiederum – nach Dissys Kunstprojekt „Fynn – das Debütalbum „Playlist 01“ deutlich hörbar prägte. Die zuvor charakteristischen düster rumpelnde Weirdo-Beats wichen dort stellenweise Gitarrenloops mit zurückgestellten Drums. Der Bass schepperte zwar immer noch aus dem Röhrenverstärker im Kleinwagen-Kofferraum und „Playlist 01“ ist bei weitem keine generische Mainstream-Pop-Platte. Doch auf einmal wird Dissy dann das Label Stimme einer Generation angedichtet. Dem Protagonisten gefällt das gar nicht: „Ich fand das nie geil. Ich war das auch nie. Vielleicht die Stimme einer Nische. Von ganz bestimmten Leuten, die sich dann aber auch richtig krass repräsentiert fühlen. Die große Stimme einer Generation ist aber schon was anderes. Das sind andere Leute.“

 

Nun geht es zurück ans Experimentieren. Dieser Rückbesinnung ging auch eine Entscheidende Erkenntnis voraus: „Ich habe gemerkt, dass die beim Label gar nicht erwarten, dass das kommerziell richtig erfolgreich sein soll. Der Wunsch ist natürlich schon da, aber das passiert bei mir eher dadurch, einfach meine Schiene fahren, als dass ich krampfhaft versuche Popsongs zu machen.“ Dabei herausgekommen ist nun das „Bugtape“. Der erste Vorbote „Click“ ist bereits ein halbes Jahr alt und Teil einer weniger verkrampften Release-Strategie: „Einfach mal rausbringen und gucken was passiert. Eigentlich ist es ja auch völlig egal, wie die Leute darauf reagieren, aber trotzdem ist es total spannend sowas wie „Cotazur“ mal auszuprobieren, daraus zu lernen und dann den Sound noch zu perfektionieren.“

„Ich stehe voll auf Konzepte. Aber das passiert unterbewusst.“

2019 verbachte Dissy also mit Singles, Videos und Ausprobieren. Ein vollkommen schlüßiges Konzept zieht sich dennoch durch das „Bugtape“. Das wird schon beim ersten Blick auf die Tracklist klar. Aneinandergereiht bilden die Songtitel die kryptischen Sätze „Wenn ich hier drauf Click kommt ein error sound aber ich bin Psychoblick Dissy. Du hast mein Herz im Darknet verkauft und chillst an der cotazur mit Pikatchupillen.“ Ein Konzept-Tape ist es also geworden.

Mit der zweiten Seite des „Bugtape“ verspricht mir Dissy noch mehr Sinn in sein Tracklist-Spielchen zu bringen. Die fünf Skits, mit denen die Tracklist zu Sätzen aufgefüllt wird, sorgen zudem für einen DJ-Mixtape-artigen Hörfluss. „Die Idee kam von diesem Flume Mixtape, wo alle Songs ineinander übergehen. Du hast das Gefühl nur einen Song zu hören. Und ich wollte was machen, das beim durchhören anders ist, als wenn man die Songs einzeln bei Spotify hört. Ich hatte Bock, dass die Songs ineinander übergehen, ohne dass das in den Songs selbst passiert. Und dann habe ich halt die bereits fertigen Songs wie „Click“ und „Cotazur“ in einen Satz gebracht.“

„Google wie geht Liebe?“

Tatsächlich ist durch diese Arbeitsweise in dem vom Skit zum Song mutierten „Mit“ auch ein kompletter Song entstanden. Aus einem instrumentalen Übergangs-Track wurde mit Hilfe des durch die Tracklist bereits bestimmten Titels eine waschechte Spitter-Nummer, die auf dem dreibuchstabigen Füllwort rumreitet, wie Eko und Savas zu besten Dipset-Zeiten. Auch hier zeigt sich eine Art aufarbeiten von Playlist 01. „Es war immer die negative Kritik, dass „Playlist“ für 2018 sehr altbacken gerappt oder geflowt sei. Ich habe mir jetzt krass vorgenommen, daran zu Arbeiten. Es war sowieso eine lange Stilfindung, was Performance und Rap an sich angeht.“ Gerade auf „Mit“ wird das hörbar. Allgemein zeichnet sich Dissys Musik durch einen interessanten Gegensatz aus: Auf der raptechnischen Seite hört man ihm ganz klar eine traditionelle Rap-Sozialisation zwischen Wie-Vergleichen und Klassiker-Pattern an, womit die eklektisch elektronischen Beats klar brechen.

Neu ist allerdings die starke Dynamik in Dissys Stimmeinsatz. Es geht teilweise wild hin und her zwischen emotionslosem Sprechgesang und Geschrei aus voller Kehle. JPEGMafia nennt Dissy hier nachvollziehbarerweise als Inspirationsquelle. Ein neues, qualitativ hochwertiges Mikrofon war allerdings ebenso wichtig für seine stimmliche Entwicklung. Ebenfalls hat der Erfurter in Tornpalk und Phil Koch neue musikalische Gegenparts gefunden. „Die Beiden machen viel analog. Also mit Synthesizern und Live-Instrumenten und dann durch den Sampler gejagt. Gerade bei „Cotazur“ hört man dieses Jammen total. Der Grundbeat ist von mir, was eigentlich nur ein Logic-Sample ist und dann kam Tornpalk und hat das in einen Live-Kontext gebracht.“

„Ich will gar nicht sagen, dass die Digitalisierung scheiße ist.“

Auffällig in den Beats sind zudem charakteristische Störgeräusche aus der digitalen Welt sowie sehr kurze, abgehackte Samples, die schnell aneinandergereiht interessante Pattern hervorbringen. „Du hast mein Herz im Darknet verkauft“ ist wohl das beste Beispiel dafür. Trotz dem zerhackten Charakter der Sounds entsteht ein mitreißender Groove, der den Song kurzerhand zu einem waschechten Hit macht. Der Name „Bugtape“ lehnt sich nun logischerweise auch an diese Error-Sounds an. Nur um gleichzeitig auch die namentliche Brücke zu Dissys Debüt-EP „Pestizid“ zu schlagen. „‘Bugtape‘ soll die Fortsetzung von ‚Pestizid‘ sein. Ich wollte eigentlich grafisch auch wieder mit diesem Käfer von damals arbeiten.“ 

 

Am Ende ist es wenig verwunderlich, dass „Bugtape“ – auch wenn es musikalisch eine völlig andere Richtung einschlägt – dennoch an „Playlist 01“ anschließt. Diese Parallele findet vor allem textlich statt. Es geht immer noch um die Flucht vor Dingen, vor der Realität und um simple Ablenkung von dem sich immer schneller und absurder drehenden Weltgeschehen. Auf seinem Debütalbum passierte das noch auf dem klassischen Weg zwischen Partys, Drogen und Zweisamkeit. „Bugtape“ zielt nun auf ein großes Paradoxon der modernen Menschheit: das Internet.

„Ich habe das Gefühl von Einsamkeit, das ich in Berlin oft habe, zusammengefasst.“

Anders als bei Drogen kommen Ursprung und Mittel von Realitätsflucht im Netz direkt zusammen. „Durch das Internet habe ich viel mehr mitgekriegt von der ganzen Scheiße auf der Welt. Vorher war man viel mehr in seiner Bubble und redet sich alles schön,“ erklärt Dissy. Gleichzeitig ist das Internet heutzutage das Realitätsflucht-Medium Nummer Eins. Auch für Dissy selbst: „Um mich herum überfordert mich ständig irgendwas und dann gucke ich halt bei Instagram rein, weil ich kein Bock habe, mit Leuten zu reden. Man befindet sich viel in so einer Scheinwelt.“ Und da kommt natürlich noch eine weitere Kehrseite der Medaille ins Spiel. Das ständige Vergleichen auf Social Media und die Kommentarfluten in sämtlichen Netzwerken wirkt stark auf die menschliche Psyche ein: „Ich habe schon das Gefühl, dass sehr viele einsam und depressiv sind und das hängt schon damit zusammen, dass man sich ständig im Internet vergleicht.“

Schließlich findet durch das Internet auch eine Verwässerung von Kultur statt, personifiziert in der Modus Mio-Playlist. „Click“ setzt sich mit der schieren Masse an talentfreien Musikschaffenden auseinander und deren Vorliebe, sich nur noch über ihre angehäuften Zahlen-Mengen zu definieren, von Clicks und Views bis Geld und Ketten. Gleichzeitig sieht Dissy allerdings auch die Unmöglichkeit sich als Musiker aus diesem Sumpf herauszuhalten und wandert in Strophe Drei folgerichtig von der einen Seite der Pistole auf die andere. Allgemein zeichnet sich „Bugtape“ durch clevere Wendungen und messerscharfe Punchlines aus. Anstatt die Komplexität unserer Gesellschaft in irgendwelchen Phrasen auf ein Minimum zu reduzieren, um für eine möglichst große Menschenmasse identifizierbar zu machen, lebt Dissy diese vollends aus. Ganze Meinungen werden innerhalb einer Punchline von links nach rechts gezogen.

„Die Digitalisierung sorgt dafür, dass die Leute das Gefühl haben überall ihr Meinung sagen zu müssen.“

Seite A des „Bugtape“ setzt sich vor allem mit den negativen Aspekten unserer digitalisierten Lebensrealität auseinander. „Google wie geht Liebe?“ fragt Dissy auf „Error Sound“ und bittet Amazons spionierenden Alltagsassistenten Alexa um einen Song gegen die Einsamkeit. Angelehnt ist das Ganze an eine Episode aus der dystopischen Serie „Mr. Robot“. Dennoch wird im ersten Teil vor allem analysiert und weitergesponnen. So erzählt „Cotazur“ in der ersten Person eine Stalker-Geschichte, die auf Internet-Timelines und Instagram-Bildern beruht. Im zugehörigen Video zeigt Dissy dann erneut warum er die vergangenen Jahre vor allem mit dem Drehen von Musikvideos verbracht hat.

 

Seite B soll persönlicher werden. Und vor allem noch düsterer als Teil Eins. „Die Songs habe ich tatsächlich viel eher geschrieben. Das sind meine Herzstücke, die habe ich noch zurückgehalten.“ Wenn es nach Dissy geht, soll die zweite Hälfte dann auch möglichst schnell erscheinen. Am Besten, solange es draußen noch kalt ist, und dunkel. Das ist keine Frühlingsmusik für die ersten Sonnenstrahlen. Für ein nächstes Album, an dem Dissy auch schon lose arbeitet, soll es dann allerdings wieder in die andere Richtung gehen. Das Mammut-Album zwischen Massentauglichkeit und Innovation hat er noch nicht abgeschrieben. „Ich habe wirklich Bock nach den EPs ein Album zu machen, das wirklich positiver ist – auch im Sound. Und vor allem einen guten Spagat hinzukriegen zwischen eingängig aber trotzdem experimentell. Dafür muss man aber jetzt erstmal das Experimentelle noch weiter ausprobieren.“