Sierra Kidd: „So langsam muss auch mal wieder gute Musik kommen.“

In diesem Kalenderjahr war der deutsche Rap wohl so experimentell, wie lange nicht mehr. Einer, der diese Grenzen schon länger überschreitet, ist Sierra Kidd: Durch einen Track, den der damals fünfzehnjährige in sein Headset rappte, wurde er entdeckt und unterschrieb bei Raf Camoras Label Indipendenza, das er jedoch nach dem Release seines Debüts vor fast zwei Jahren wieder verließ. Mittlerweile gründete er ein eigenes Label und spielte mehrere Touren. Durch seinen Sound und seine gesamte Aufmachung spaltet der Emdener die Geister. Mich interessierte, wie sich der zwanzigjährige jenseits des Rampenlichts verhält und so besuchte ich Anfang des Monats Sierra Kidd bei seinem Tourstop im Hamburger Nochtspeicher für ein Interview. Der Ostfriese kam zu spät. Wo er die Zeit verbracht hatte, musste er mir nicht erklären: Zwei neue Tattoos zierten sein Gesicht. Ich strich somit alle Fragen rund um Glaubwürdigkeit aus meinem Fragenkatalog und führte ein Interview mit einem energiegeladenen, jungen Rapper, der einiges zu sagen hat. 
Foto: Manuel Karp

Zu Anfang: Du bist auf deiner größten eigenen Tour bisher. Wie sind deine Eindrücke nach ungefähr der Hälfte der Gigs?

Sierra Kidd: Super gut. Also bis jetzt echt nice. Wir hatten erst am Anfang ein bisschen Angst, da wir mit der neuen Mukke an den Start kommen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob die Leute es verstehen werden oder ob sie darauf abfeiern können, aber die Zweifel waren vollkommen unberechtigt. Die Leute in Deutschland sehnen sich nach geilen Liveshows und das ist eben umso nicer, dass wir ihnen das geben können.

Du sprichst deine neue Musik an. Wenn man sich durch deine Diskographie hört, fällt auf, dass deine Musik immer live tauglicher wird. Resultiert diese Entwicklung aus der Erfahrung deiner ersten Liveshows mit verträumteren, langsameren Songs?

Sierra Kidd: Es kommt glaube ich eher von der amerikansichen Seite, da wir uns viel von Musikern aus den U.S.A inspirieren lassen, das kann man ja ruhig so sagen. Daher kommt das auch mit den Liveshows, denn auch dort drüben werden diese immer wichtiger. So jemand wie Travis Scott, der live jedes mal alles abreißt, ist sicher eines unserer Vorbilder.

Wenn wir in eine Location kommen, dann wollen wir ebenfalls alles abreißen.

Woher kommt generell dein Bezug zu den Staaten? Denn egal ob es Albumtitel sind, der Name der Tour oder deine Sprachweise, die du mit 21 Savage vergleichst, weißt alles starke Einflüsse der Staaten auf.

Sierra Kidd: Rap und Hip-Hop kommt nun mal aus den Staaten. Wenn du dich ein bisschen mit deutscher Musik beschäftigst, merkst du irgendwann, dass du an deine Grenzen stößt. Manche Schienen und Charaktere gibt es nur in Amerika. Die Musik da ist viel breiter gefächert und die Leute werden auch viel Erfolgreicher mit dem was sie machen. Logischerweise, da es nicht nur der nationale, sondern der internationale Markt ist, aber der Unterschied ist halt trotzdem heavy. Also das sind halt eher unserer Vorbilder. Wenn du mich jetzt fragen würdest: „Wie findest du Savas?“ Dann würde ich dir antworten, dass Savas ein mega cooler Typ ist und mega gute Musik macht, aber ist Savas für mich ein Vorbild? Ich weiß nicht.

Das ist wohl der Tatsache geschuldet, dass sich andere deutsche Rapper ebenfalls zum Großteil von internationalen Vorbildern inspirieren lassen und der Markt deswegen, was Inspirationen angeht, dort wesentlich frischer ist.

Sierra Kidd: Klar.

Zu deinem jüngster Release, der EP „B4FUNERAL“. Wie ist für dich das direkte Feedback? Vorallem live auf der Bühne, wenn du eine Mischung von alten und neuen Tracks spielst?

Sierra Kidd: Ich merke da schon einen Unterschied. Die Leute feiern viel mehr zu den neuen Sachen. Das ist zum upturnen einfach genau das Richtige. Außerdem ist es auch komplett das, was wir widerspiegeln. Du kommst hier her und das erste was du siehst, ist wie ich mich frisch tätowiert neben dich setzte. Gleich werde ich mich mir erstmal eine Cola einschenken, während Kynda unten einen dreht. Wir sind das, was wir verkörpern und das mit Leib und Seele.

Das schöne an der Tour ist sicher, ein ehrliches Feedback zu erleben, das sich nicht in Zahlen messen lässt.

Sierra Kidd: Genau, das ist das Ding. Die alten Songs laufen, da die alten Songs nunmal seit jeder Tour dabei sind.

Aber wie die Menge schreit, sobald „Xanny“ losgeht, sowas habe ich noch nicht erlebt.

Das ist viel heftiger als bei „Kopfvilla“, als bei „Signal“ oder bei jedem anderem Song. Das ist aber fast bei jedem Song der EP so. „Fan von dir“ hören sie sich immer noch gerne an, aber grundsätzlich kommen die neueren Releases live immer besser an und es wird immer mehr zu dem, was ich wirklich machen will.

Mit dem Namen der EP und der gesamten Aufmachung, dem Branding und dem Namen der Tour deutest du auf ein Ende hin. Hast du mit so einem guten Feedback auf deine neue Musik, auch bezogen auf das Intro in dem Zweifel aus den eigenen Reihen deutlich werden, gerechnet? 

Sierra Kidd: Ne, wir haben am Anfang echt ein bisschen Bange gehabt, wie das ankommen wird, aber dann als der Releasetermin der EP immer näher gekommen ist, wurde uns klar: „Nein, das ist einfach der heißeste Scheiß den es zur Zeit in Deutschland gibt.“ Jeder der etwas anderes behauptet, redet einfach Unsinn. Das wir machen zur Zeit, ist einfach extrem nice und diese Richtung gibt es auch auf eine andere Art und Weise so in Deutschland, in dieser Qualität nicht. Es gibt noch viele andere gute Künstler, das sage ich ja gar nicht. Die Immer.Ready-Gang zum Beispiel ist sehr nice. Auch die Berg Money Gang mit Planemo sind sehr nice. Die Leute entwickeln sich in eine gute Richtung in Deutschland. Aber guck mal, seit fünf oder sechs Jahren werden die TopTen von diesen Premiumboxen besetzt. So langsam muss auch mal wieder gute Musik kommen.

Sprich zu deinem nächstem Release wird es keine Premiumbox mehr geben?

Sierra Kidd: Wer weiß? Vielleicht wird es eine geben, aber mit einem guten Album drin, denn das ist sehr oft nicht so.

Du hast „Kopfvilla“ eben schon angesprochen. Der Track mit dem du entdeckt wurdest, wird in einem Monat vier Jahre alt. Du hast dich in dieser Zeit vom Newcomer zum Leader deines Teams entwickelt. Hat dieser Prozess direkte Auswirkung auf deine Musik?

Sierra Kidd: Ich bin halt nicht mehr der kleine Junge von damals, der sich in seinem Zimmer zurückzieht und da dann alleine ist, weil keiner mit ihm chillen will. Das bin ich halt gar nicht mehr und das verkörpere ich auch nicht. Das was ich jetzt bin ist, du hast es grade gesagt, der Leader von diesem Team und ich versuche das Movement in die richtige Richtung zu pushen. Ich sage das jedesmal, damit es in den Köpfen der Leute bleibt. Wir wollen wirklich nachhaltig dazu beitragen, dass Musik sich in die richtige Richtung bewegt und ich denke, wir machen das momentan ganz gut. Natürlich werden wir in Zukunft noch mehr machen, noch aggressiver vorgehen, noch offensiver und noch mehr Release droppen und Touren spielen bis wir angekommen sind, aber mir macht das genauso auch Spaß. Also alles gut.

Würdest du sagen, dass du dich kontinuierlich weiterentwickelt hast oder gab es besondere Schritte in deinem Werdegang? Jetzt grade machst du einen großen Wirbel um dein kommendes Album, da es ein großer Unterschied zu dem sein soll, was „FSOD“ war, das du über Nacht veröffentlichst hast. Ist der Sprung von „FSOD“ zu „Rest in Peace“ ist größer, als von deinem Debüt „Nirgendwer“ zu „FSOD“?

Sierra Kidd: Ich würde sagen, wahrscheinlich ist der Unterschied fast gleich groß. Das Problem ist, dass der Sprung zwischen „Nirgendwer“ und „FSOD“ so verdammt groß wirkt. Aber die Leute vergessen mein „Kidd of Rap: Kill it“-Mixtape oft, das wir nicht groß promotet haben. Da war der Sound von „FSOD“ schon angedeutet. Deswegen glaube ich nicht, das der Sprung vom musikalischen so extrem riesig wird. Natürlich wird es extremer für Leute sein, die sich nicht so viel mit Musik beschäftigen. Für die wird es sehr speziell sein, aber genau das soll es auch sein und das macht es in meinen Augen auch so gut.

Würdest du dich nochmal dafür entscheiden ein Album über Nacht zu veröffentlichen?

Sierra Kidd: Ja, safe. Jederzeit. Wer weiß? Vielleicht passiert es ja nochmal.

 

Neben deiner Musik hat sich auch dein Wohnort oft verändert. Wäre es zu viel zu sagen, dass der verträumte Kleinstadtjunge in die Großstadt zog, mehr mit der Industrie konfrontiert wurde und aufgehört hat zu träumen?

Sierra Kidd: Ich träume immer noch, aber heute kämpfe ich für meine Ziele. Damals saß ich einfach nur da und habe geträumt. Aber Träume alleine bringen dir nichts. Du musst schon aufstehen und etwas machen. Glaubst du das hier kommt von nichts? Ich hatte extrem viel Glück. Mein Problem ist, dass es mir bewiesen wurde, dass es auch so funktionieren kann. Denn ich wurde aus dem nichts entdeckt.Trotzdem musst du rausgehen und etwas machen, also für deine Ziele arbeiten. „As soon as you get the chance to make it“, dann musst du diese auch ergreifen, sofort alle deine Visionen in die Tat umsetzten. Anders funktioniert es nicht.

Du sprichst sehr impulsiv. Würdest su sagen, dass du wütender oder energiegeladener bist, als früher?

Sierra Kidd: Ja, safe, auf alles. Wenn du älter wirst, checkst du halt langsam wie die Dinge laufen und ich habe längst noch nicht alles gecheckt. Ich bin mit zwanzig Jahren immer noch extrem jung. Ich habe noch so viel zu entdecken. Aber ich merke, dass es bestimme Algorithmen im Geschäft gibt und ich bin der einzige der da steht und sagt „Wieso? Warum sollte ich das tun?“

Ich verstehe nicht, wie es so weit kommen muss, dass ein zwanzigjähriger aufstehen und sagen muss: „Hier läuft was falsch.“ Wieso macht das den keiner von den Rappern, die schon seit zehn oder zwanzig Jahren im Game sind und so viel Erfolg haben?

Warum kommt den keiner von denen und sagt: “Hier läuft einiges schief?“ Weil es für die gut läuft. Sie machen lieber noch eine Premiumbox und gehen dann noch leichter Gold. Aber was machen die denn für die Kultur? Das einzige, das sie machen ist, sie setzen Hip-Hop darauf fest, dass wir Verkaufszahlen generieren und machen auf einmal Alben wichtiger als andere, abhängig von Verkaufszahlen. Aber so sollte das nicht funktionieren. Entweder machst du gute Musik oder du machst schlechte Musik. Aber dazwischen gibt es nichts.

Wie ist dein Plan gegen dieses Problem vorzugehen?

Sierra Kidd: Einfach so lange diese Algorithmen nicht befolgen, bis man ohne diese Erfolg hat. Man muss den Leuten zeigen, dass es auch anders geht und es geht auch zu 100 Prozent anders. „FSOD“ haben wir einfach so über Nacht releaset und bei „B4FUNERAL“ hatten wir neun tage Vorlauf. Wir arbeiten anders und bei uns funktioniert es. Wir stehen heute hier vor ausverkauftem Haus in Hamburg und das nicht das erste Mal während dieser Tour. Wir zeigen allen andern, dass es auch anders geht und dieser Jugend und Kultur tut das verdammt gut. Weißt du wie viele Künstler zu mir kommen und sagen: “Das was du tust, ist genau das richtige.“ Ich nehme Leute wie Mena, Kynda Gray und Jalle und Felikz mit auf Tour. Leute von denen man noch nie etwas gehört hat. Einfach nur, weil ich sie pushen will. Es geht überhaupt nicht um Geld, sondern die Liebe zu diesem Projekt.

Wie wichtig ist es dir neben deiner Musik auch noch andere Werte zu vermitteln? Mit deinem Merchandise und deinem gesamten Auftreten schwingt auch noch ein Lebensgefühl mit. Bist du dir dem bewusst?

Sierra Kidd: Na klar. Irgendwo verkaufe ich schon so eine Art Lebensgefühl, aber es geht darum, dass man immer das machen soll, was man will. Ich sitze hier zwar mit meinen Gesichttattoos, aber wenn ich jemandem begegne der einen Anzug trägt, bin ich dem nicht negativ eingestellt. Es gibt für mich keine Unterschiede von Äußerlichkeiten. Ich versuche Menschen nicht danach zu bewerten, sondern gucke wie die Menschen sich mir gegenüber verhalten. Aber grundsätzlich habe ich keinen Hass gegenüber anderen Menschen und könnte auch niemandem etwas Böses antun, denke ich.

Als abschließende Frage: Wie weit bist du mit deinem kommenden Album? Bezogen auf deine neu gewonnen Freiheiten, durch das positive Feedback auf die EP?

Sierra Kidd: Also neue Freiheiten habe ich so nicht bekommen, den ich bin ja ein independent Artist. Ich mache meine Mukke selbst. „B4FUNERAL“ habe ich selber gemischt und gemastert. Ich habe wirklich alles selber gemacht. Ich bin der freieste Künstler wahrscheinlich und kann machen was ich will und das Gefühl versuche ich auch anderen Künstlern zu vermitteln, dass man kein Label im Rücken braucht. Wir haben sehr viel Glück, dass wir Chapter One im Rücken haben, die alles übernehmen, was für eine Person zu viel wäre und uns natürlich auch finanziell im Rücken stehen. Das hilft vor allem bei großen Projekten, die man als Privatperson nicht alleine stemmen kann oder möchte. Aber trotzdem bin ich zu 100 Prozent ein freier Artist und dadurch wird die Musik auch nur besser.

„Freiheiten“ waren in diesem Kontext mehr auf das musikalische bezogen, dass du vielleicht nicht mehr denkst, dass deine Fans deinen neuen Output nicht mehr verstehen.

Sierra Kidd: Ne, das denke ich gar nicht mehr. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich machen kann was ich will und die Leute werden es genau deswegen feiern, weil ich mache was ich will. Wenn ihnen dann noch zusätzlich die Musik gefällt, wie es bei uns gerade der Fall ist, dann ist es ein sehr geiles Gefühl.

Das aktuellste Release von Sierra Kidd, die EP „B4FUNERAL“, [easyazon_link identifier=“B01MG26N43″ locale=“DE“ tag=“wbd0d-21″]könnt ihr hier kaufen.[/easyazon_link]

Neben seinem Signing Kynda Gray, begleitete Sierra Kidd auf Tour der Lonely Hearts Club, also Mena und Slim Finn, Jalle und Felikz und der Österreicher Wendja, den meine Kollegin Anna sprach.

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Moin! Aachener, der irgendwas mit Medien macht, ungern über sich in der Dritten Person schreibt und fest zu BACKSPIN gehört. Kopf ist kaputt, aber Beitrag is nice, wa.
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