Lemur: „Heute ist alles nur noch schwarz oder weiß“

Foto: Sara Reuter

„Die Rache der Tiere“ steht uns kurz bevor.
Knapp drei Jahre liegt die Trennung von Herr von Grau nun zurück.
Lemur, das ist nicht nur die Hälfte von Herr von Grau, sondern viel mehr noch deren logische, musikalische Weiterentwicklung. Kurz vor Release der zweiten Soloplatte unterhielten wir uns mit Lemur und sprachen über die Resonanz auf die Solokarriere, über zu einfache Lösungen für komplexe Probleme und über seine Passion für elektronische Musik.

„Die Rache der Tiere“ steht in den Startlöchern, dein zweites Album als Lemur. Wie viel von Herr von Grau steckt denn noch in Lemur?

Lemur: Auch bei Herr von Grau habe ich ja gerappt und die Beats gemacht, dementsprechend steckt vermutlich noch sehr viel Herr von Grau drin. Mein damaliger Partner war Live Back up, DJ, Engineer und hat das Label und Management geschmissen, was halt auch sau viel Zeug ist, weshalb wir uns nach 3 Jahren HvG dann auch als Band verkauft haben. Lemur ist vermutlich einfach die logische Weiterentwicklung von Herr von Grau, die stattgefunden hat.

Welche Beweggründe hatte die Trennung von Herr von Grau und der Neustart als Lemur?

Lemur: Die Trennung war einfach an der Zeit, das hatte persönliche Gründe.

Wie fällt deine Reaktion aus, wenn dich Leute heute immer noch ansprechen, weil sie dich ausschließlich mit Herr von Grau in Verbindung bringen?

Lemur: Nachdem ich jetzt schon fast drei Jahre unter dem Namen Lemur unterwegs bin, geht mir das natürlich manchmal auf den Sack (lacht). Aber ich schätze, das ist normal. Immerhin waren wir auch sieben Jahre als Herr von Grau unterwegs. Ich finde nur die Leute lustig, die behaupten, die Beats bei Herr von Grau waren besser, als das noch der andere gemacht hat (lacht).

Na die scheinen ja bestens informiert zu sein.

Lemur: Ja, aber genau dieses Problem gab es bei Herr von Grau immer – die Leute wussten einfach nie, wer da was genau macht. Viele dachten, es sei das typische Produzent-MC-Duo gewesen, das war es aber eben nicht. Ist ja auch nicht so schlimm. Der Unterschied zu damals ist jetzt, dass ich mich halt mittlerweile auch selbst aufnehme und mische, das habe ich mir inzwischen angeeignet. Dementsprechend klingt Lemur auch etwas anders, wahrscheinlich freier.

Wie sieht denn die Resonanz auf deine Solokarriere nach fast drei Jahren aus? Und woher kam die Motivation, nach der Trennung sofort weiter Musik zu machen?

Lemur: Ich musste weitermachen, ich kann gar nicht anders. So hat sich die Frage der Motivation für mich gar nicht gestellt. Solange ich etwas habe, über das ich sprechen kann, tu ich das, und Beats baue ich eh die ganze Zeit. Zunächst war die Resonanz etwas gespalten. Die einen fanden, dass es genau so geile Musik ist wie früher und haben mich motiviert, weiter zu machen. Dann gab es aber auch das andere Extrem, nämlich totalen Hass. Tatsachlich ging das soweit, dass es sogar ernsthafte Drohungen gab. Viele Leute haben aber eben vorher auch nicht verstanden, was Herr von Grau war und ich hatte keine Lust, das ständig zu kommunizieren. Inzwischen sind ein paar alte Fans abgesprungen, aber auch neue hinzugekommen.

Im Doppelvideo „MMV/ Ballast“, das du ausgekoppelt hast, beschwerst du dich uber zu viel Information. Im selben Atemzug hast du dich bei Instagram angemeldet.

Lemur: Ja absurd, oder? Der Song „MMV“ erzählt aber nicht nur von einer Social Media Reizüberflutung, sondern eher von einer allgemeinen – es geht auch um Werbung beispielsweise, die an Hauswänden prangt oder dir in der U-Bahn entgegen springt. Und dass, egal, was man zur Zeit sagt, man direkt in ein Lager einsortiert wird und entweder totalen Hass oder totalen Zuspruch abbekommt.

Es gibt nur noch entweder/oder, nur noch schwarz/ weiß.

 Das alles habe ich vermengt und in einem recht emotionalen Text niedergeschrieben. Zu Social Media: Da gibt es halt jede Menge Zeug, mit dem man Leute erreichen kann, ich habe mich lange Zeit dagegen gewehrt, mich damit zu beschäftigen. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der nicht jeder ein Smartphone hatte. Dennoch habe ich eingesehen, dass ich damit noch mehr Leute erreichen kann und probiere es jetzt mal aus, allerdings bin ich da recht leidenschaftslos und habe kaum Ahnung.

Welches sind deine Kernkritikpunkte an unserer Gesellschaft, die du noch nicht in diesem Text niedergeschrieben hast?

Lemur: Es gibt finde ich sehr vieles zu kritisieren. Schwer für mich, das jetzt auf Knopfdruck auf wenige Punkte runter zu brechen. Aber zum Beispiel, wie eben schon angedeutet: Die momentane Schwarz/Weiß Denke. Alles ist total krass aufgeladen und man ist entweder zu hundert Prozent für oder gegen etwas. Leute sehen extrem einfache Lösungen für komplexe Probleme, die immer den Beigeschmack des totalitären haben. Was mich auch nervt, ist dieses wir oder die-Ding. Ständig wird eine ganz krasse Bedrohungskulisse suggeriert. Ich finde schlimm, wie immer alles in gut und böse eingeteilt wird, ohne dass es etwas dazwischen gibt.

Du bist Wahlberliner. Künstler, die in Berlin wohnen, trifft man entweder auf jeder HipHop Party oder auf gar keiner – wie sieht das bei dir aus?

Lemur: Tatsächlich gehöre ich zum zweiten Extrem.

Vielleicht ist’s auch ganz gut, sich nicht auf jedem Event blicken zu lassen.

Lemur: Wenn ich mal auf Hip Hop Parties hier war, haben die mir auch nie so viel gegeben. Gehe ich mal feiern, dann tatsächlich zu Techno. Das ist meine zweite große Leidenschaft. Inzwischen gehe ich aber sehr selten feiern, da ich langsam in einem Alter bin, in dem ich nicht mehr so viel wegstecke und danach meist ein paar Tage außer Gefecht bin. Das kann ich mir in meiner Selbstständigkeit nicht erlauben.

Kommt es für dich in Frage, neben Rap auch mal elektronische Musik zu veröffentlichen?

Lemur: Ich habe hier superviele Skizzen rumfliegen, die ich mal fertig machen muss. Wenn ich gerade in der Stimmung bin, arbeite ich an Techno Skizzen. Fertigproduziert habe ich bisher tatsächlich aber noch keine.

Falls es dazu kommen sollte, konnte aber eine EP beispielsweise kommen?

Lemur: Auf jeden Fall! Der Stoff ist da. Bisher habe ich mich noch nicht dazu durchringen können, dann kommt immer wieder Rap in die Quere und dann ist es auch schon wieder an der Zeit, auf Tour zu gehen und so weiter. Ich hoffe, ich krieg’s bald mal hin. Das ist allerdings nicht ausschließlich Techno, dabei ist auch genreloses Elektronik-Zeug.

Kürzlich hast du deinen Gefühlen in Form eines Facebook-Posts freien Lauf gelassen und ausgedrückt, wie zufrieden zu mit dem Album bist. Passiert das nach jeder Platte oder war diese Produktion einfach besser als die vorigen?

Lemur: Es ist das erste Album, bei dem ich auch jetzt, nach der langen Produktion, Bock habe, mir das selbst anzuhören. Ich freue mich tierisch drauf, das live zu spielen. An meiner Seite hatte ich geile Leute, auch die Features sind besonders, da ich sonst immer ein ganz übler Eigenbrötler war. Bei dieser Platte habe ich damit begonnen, auch mal für zwei Beats mit anderen Produzenten zu arbeiten und gemeinsam zu produzieren, was wirklich Spaß gebracht hat.

Glaubst du, dass es leicht ist, mit dir zu arbeiten? Gerade Produzenten sind ja oftmals etwas
besonders.

Lemur: Mir schicken oft Leute Beats zu, und nachdem ich dann Rückmeldung gebe, was ich geil finde, und woran ich evtl. selber gerne noch schrauben würde, höre ich von den meisten dann nix mehr (lacht). Ich glaube, die fühlen sich in ihrer Produzentenehre verletzt. Ich kann halt ganz schlecht die Produktion komplett aus der Hand geben, und es hat sich in letzter Zeit immer wieder gezeigt, das gerade Co-Produktionen sehr interessante Ergebnisse bringen.

Es gibt auch eine traurige Geschichte zur Platte.

Lemur: Ja, über Nazz, die auch auf dem Album vertreten ist, habe ich den Produzenten Philipp S. kennengelernt, der total locker und offen war. Wir haben über etwa zwei Wochen sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Wir hatten gerade einen Track fertiggestellt und dann erfuhr ich, dass er verstorben ist. Das war natürlich ein extremer Tiefschlag, aber ich bin sehr froh, dass der Track es auf die Platte geschafft hat.

Im Deutschrap ist ein einjähriger Release-Rhythmus Gang und Gebe. Zwischen dieser Platte und ihrem Vorgänger liegen jetzt exakt zwei Jahre – welche Rolle spielt der Rhythmus für dich?

Lemur: In der Zwischenzeit habe ich ja eine Kollabo-EP mit Marten McFly und diverse einzelne Tracks veröffentlicht. Da ich alles alleine mache, braucht das ganze einfach seine Zeit.

Außerdem müssen Texte ja auch erst erlebt werden.

Die Musik kommt raus, wenn sie fertig ist und dass jetzt exakt zwei Jahre zwischen den Alben liegen, ist Zufall. Der Releaserhythmus ist mir eigentlich egal.


Wenn du sagst, die Texte müssen erst erlebt werden: Existieren für dich konkrete Situationen oder eine bestimmte Atmosphäre, die es braucht, damit du schreiben kannst?

Lemur: Das ist immer unterschiedlich. Der Blitz schlägt ein, wenn er Bock hat. Bei mir ist es so, dass ich nur mit Stift und Papier schreiben kann und nicht auf dem Rechner oder Handy. Oft war es auch schon so, dass ich auf Parties einen Gesprächsfetzen aufgeschnappt und mich dann verpisst habe, um auf dieser Basis schnell einen Text zu schreiben.

Auf der Platte befindet sich der Song „Sterben“, dort rappst du extrem leichtfüßig und unbeschwert über ein solch schwieriges Thema. Woher resultiert diese Unbeschwertheit?

Lemur: Keine Ahnung. Das sind diese Momente, wo ich keine Ahnung habe, wo der Text herkommt, sondern dass er einfach passiert. Das gibt dann der Moment einfach her, ich würde nämlich jetzt nicht behaupten, dass ich ein total unbeschwerter Typ bin (lacht).

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