Auf ihrer ersten EP wird frei nach dem Titel „The Death of Papi“ das Patriarchat für tot erklärt und im Video zum gleichnamigen Titeltrack dann auch symbolisch zu Grabe getragen. Ein Jahr später verhandelt das Trio Gaddafi Gals nun die Zeit nach der langen Herrschaft und die damit verbundene neue Freiheit. Diese Idee und die damit verbundene Befreiung machen „Temple“ nun tatsächlich zu einem futuristischen Album. Es geht also endlich mal nicht nur um „futuristische“ Beats, die irgendwie nach Weltraum klingen, sondern auch tatsächlich auch um eine futuristische Vision als übergeordnetes Konzept. Welcome to the Future.
Die Geschichte dieser Band, die eigentlich keine Band seien will und sich dennoch häufig als Band bezeichnet, weil es einfach noch kein passenderes Wort dafür gibt, lässt sich guten Gewissens als chaotisch beschreiben. Es geht los mit einem Video, aus dem nicht so ganz klar wird, wer oder was die Gaddafi Gals überhaupt sind. Auf Interviews oder traditionell überoffensichtliche Internetpräsenz wird wenig Wert gelegt. Als sich das Geheimnis so langsam lüftet, erscheint ein New York Times Artikel mit einer unsauber formulierten Headline. So wird unabsichtlich die Hype-Trommel angeschmissen. Das Projekt Gaddafi Gals, das eigentlich in einer eher zufälligen Studio-Session nach dem Motto „Warum probiert man nicht einfach mal zusammen Musik zu machen?“ innerhalb von nur fünf Tagen eine EP erschuf, in eine neue Dimension katapultiert. Eine komplette Internet-Hysterie bleibt zwar aus, ein Label-Deal und eine Einladung zum prestige-trächtigen SXSW in Texas folgen dennoch.
Die eigentliche Ansage, sich Interviews aus Unlust auf die immer gleichen politischen Fragerunden voll politisch unkorrekter Fragen zu verweigern, hat sich mittlerweile gelockert. Allgemein soll es keine allzu klaren Vorgaben geben. So kommt es schließlich gut eineinhalb Wochen nach dem Release von „Temple“ zu einem Telefongespräch mit slimgirl fat, blaqtea und walter p99 arkestra. Liest man nur die Alias der drei Bandmitglieder, kommt man bereits nicht mehr um die Schlagwörter Twitter-Lingo und Internet-Kultur herum. Und dennoch lieben es die Drei auch diese digitale Welt zu konterkarieren und allgemein mit Kontrasten und Gegensätzen zu spielen. Dazu passt irgendwie auch, dass unser Gespräch örtlich jeweils getrennt in der digital-analogen-Mischform des Telefonkonferenz-Raums stattfindet.
In der modernen Wissenschaft gibt es eine Strömung, die sich dem Phänomen des post-digitalen Zeitalters widmet. Die Gaddafi Gals würden in dieser Szene mit Kusshand aufgenommen. Eine Art Galionsfigur der Post-Digitalisten ist ein Bild, dass logischerweise zum Meme wurde. Es zeigt einen jungen Mann im Park mit seiner Schreibmaschine im Park sitzen. Die Bildunterschrift: „You’re not a real hipster, until you take your typewriter to the park.“ Die Idee des Post-Digitalismus ist folglich analoge und digitale Medien zu verbinden. Polaroid-Bilder via Photoshop zu verfälschen, lediglich digital erwerbbare Musik analog zu mastern oder veraltete und haptische Medien wie Kassetten über aktuelle und digitale Medien wie Instagram zu verkaufen. Letzteres machen die Gaddafi Gals natürlich.
Ebenso haben sie im vergangenen Jahr für die Münchener Artothek einen Concept-Merch-Store designed und gebaut und diesen mitsamt Eröffnungskonzert auf der Messe ausgestellt. Bei den Gaddafi Gals geht es um mehr als nur die Musik. Visuelles ist dabei natürlich wichtig. Das Video zu „Gaze“ ist eines der besten deutschen Musikvideos der vergangenen Jahre. Ob es jedoch Bilder von der eigenen Kunstausstellung gibt? Fast gar keine! Man muss halt dabei gewesen sein. Raus aus dem Internet. Aber natürlich nur für kurze Zeit.
Das neue Album „Temple“ bildet nun wiederum einen ganz eigenen Raum. Diesen stellt sich slimgirl fat in verschiedenen Interviews als eine Art Mamor-Halle vor, die einen ewigen Resonanzraum bildet. Man hört dem Album vor allem die spirituelle Ebene an, die hier beschrieben wird. Die Stimmen der Protagonistinnen layern sich bis zur Unverständlichkeit und verschwimmen an den besten Stellen des Albums so sehr, dass irgendwann völlig unklar ist, wer nun eigentlich hinter dem Mikrofon steht. Der Song „Hit on me“ gibt das Motto dafür vor: „Don’t you know how to leave your damn ego behind?“ Das Ich, das Ego soll überwunden werden.
In dieser Utopie, die dem ganzen Album zu Grunde liegt, wird alles gleichgestellt. Geschlecht, Aussehen und alle anderen Oberflächlichkeiten werden zurückgelassen. Das ist tatsächlich eine Idee weiter, als die vielen Pseudo-Future-Irgendwas-Nummern, die sich lediglich darin üben über möglichst weird hallige Beats mit maximal verunstalteten Stimmen zu singen. Mitstreiter*innen solcher Utopie sind beispielsweise etwa die*der englische Musikproduzent*in Planningtorock, die Produzentin Sophie oder Rapper Mykki Blanco.
So ganz als Utopie geht der Raum, den „Temple“ aufmacht jedoch keines Falls durch. Viel zu düster klingt die von walter p99 arkestra entworfene Soundkulisse. Die Gaddafi Gals begründen das auch dadurch, dass die Idee einfach noch keine Wirklichkeit annehmen konnte: „Es ist grade am Scheideweg, man weiß nicht nicht ob es utopisch oder dystopisch wird. Es ist ein Aufbruch. Das kann man auch auf die aktuelle politische Situation anwenden.“ Vor allem aber geht es um Offenheit und gegen das Konkrete. Grenzen fallen, Interpretationsspielräume weiten sich.
Außerdem sind die Drei einfach extrem gut darin Kontraste zu schaffen. Gegensätze durchziehen das komplette Album, gehen allerdings auch aufeinander zu. Wie beispielsweise die teils sehr soft gesungene Vortragsweise von slimgirl fat und der härtere Rap blaqteas. Inhaltlich finden ebenso Kontraste statt. Sowohl aus recht banalen, als auch aus sehr emotionalen Songs. Allein das Thema Liebe wird zwischen den Eckpfeilern toxischer Beziehungen und bedingungsloser Selbstaufgabe einmal hin und her verhandelt.
Viele Songs sind thematisch sowieso eher intuitive Produkte. Es kommt häufiger vor, dass Produzent walter p. das Thema eines Songs vorgibt. „Ich mache mir immer relativ viele Gedanken, welche Mood ein Beat hat,“ gibt der Producer, der eigentlich in der Welt des Memphis Phonk zuhause ist, zu Protokoll. Weiter geht es dann folgendermaßen: Fertige Beats benennt er meist mit zum Sound passenden Referenzen aus der Welt des Pop. Aus dem Beat-Namen schöpfen slimgirl fat und blaqtea schließlich Inspiration für Inhalte. So entstanden beispielsweise „Mitsubishi“ oder der Song „Fila“ von der „The Death of Papi“-EP. „Das geht dann auch ins Konzept über, weil man gewisse Arbeitsweisen entwickelt.“
Popkulturelle Querverweise sind allgemein ganz nach der Generation Internet ein großer Bestandteil ihrer Musik. Das Album beginnt direkt mit einem Sample aus dem Avantgarde-Film „Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ von 1965. Dieser handelt von drei Stripperinnen, die sich auf wilde von Drogen und Totschlag durchzogenen Fahrt durch Kalifornien begeben. Die gezeigten Rollenbilder von weiblicher Dominanz und Stärke passten so gar nicht in das zur Film-Veröffentlichung vorherrschende Frauenbild, weshalb der Film trotz der Hypersexualisierung der Frauen Kultstatus erlangte. Das besagte Sample leitet das Album mit den Worten „Welcome to Violence“ ein, was für die Band allerdings gar nicht so sehr als Gewaltankündigung verstanden wird. „Ich würde das gar nicht als aggressiv auslegen sondern als geballte Kraft,“ erklärt slimgirl fat. blaqtea hat dagegen eine alternative Übersetzung parat: „Willkommen in diesem Kampf, der uns umgibt.“
Mehr Referenzen wollen die Drei eigentlich nicht preisgeben: „Das ist mit eine der schönsten Sachen, wenn man sich mit Musik befasst und den Song nach dem zehnten Mal hören auf einmal checkt.“ Ein paar Minuten später rutscht walter p99 arkestra dann allerdings doch noch eine raus. Es geht um das Intro, das nach dem Vorbild von J.Dillas „Donuts“ an den Schluss der Platte gestellt wurde. Eine schöne Facette der sich aktuell noch in Grenzen haltenden Bekanntheit der Gaddafi Gals, zeigt sich hier: Einen Genius-Eintrag gibt es noch nicht. Referenzen und Zitate muss der Hörer selbst finden. Sie können nicht einfach beim ersten Hörer parallel im Netz mitgelesen werden. Wo wir wieder beim Thema Post-Digitalismus wären.
Natürlich ist futuristische Idee, die „Temple“ zugrunde liegt noch nicht ganz zu Ende gedacht. Merklich befinden sich die Gaddafi Gals noch auf der Suche ihrer Future. Daher ist grade der Einstieg in das Album nicht unbedingt einfach. Das liegt auch an den sehr freien Inhalten und vielen Referenzen. „Ich finde es ganz spannend, wenn man referenziell arbeitet. Das Album ist voll von popkulturellen Referenzen, die man dann entschlüsseln und dadurch das Bild noch klarer machen kann,“ sagt walter p. Nach einigen Durchläufen wird es also verständlicher. Auch aufgrund der vielen Entdeckungen, mit denen man, so wie es sich für eine gute Platte gehört, immer wieder belohnt wird.
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