Album der Woche: Erotik Toy Records – „Hafenwind“

Künstler: Erotik Toy Records
Titel: Hafenwind
Features: –
Produzenten: Florida Juicy
Label: Erotik Toy Records / Gold League / RBK / Sony

Niklas Erwartungshaltung:

Da ist sie also, die erste große Platte dieser sechs Jungs aus Bremen, die aktuell wohl als eine der interessantesten Konstellationen der deutschen Rap-Landschaft gehandelt werden. Natürlich stehen dabei noch einige Fragezeichen im Raum: Bekommen sie alle der unterschiedlichen Charaktere zusammen in ein Album gepresst oder bleibt es bei einer gut gemeinten Label-Kompilation ohne Überraschungen? Gibt es noch neue Kombinationen innerhalb der Gruppe, die man so noch nicht gehört hat? Und schließlich markiert „Hafenwind“ auch das Major-Debüt der Bremer Boyband über die Sony-Tochter Gold League. Bei einem Label wie ETR, das stets auf Eigenständigkeit und Untergrund-Charakter pocht, kann natürlich ganz schnell das „Ihr habt euern Arsch verkauft“-Geschrei laut werden. In jedem Fall kommen einem grade mit Blick auf die vergangenen zwei bis drei Jahre nicht wenige Künstler-Beispiele in den Kopf, die an Major-Strukturen und -Erwartungen gescheitert sind. 

1. Hafenwind

Fast schon überraschend ruhiges Intro, das allerdings den Themenradius gut absteckt und vor allem konsequent in die Sound-Grundlage einführt: Hafengesang und Schifferklavier, aber mit fettem Bass im Abgang.

2. Original

Hier kommt sie dann, die erste Bombast-Possecut-Single und der erwartete Knall, der das Spektakel „Hafenwind“ eröffnet. Die Frage, die sich unweigerlich stellt: Wer hat denn nun den besten Part in dieser Vorstellungsrunde? In meinem Freundeskreis wurde bereits zum Single-Release hin und her diskutiert, am Ende stand fast immer Doubtboys Part an erster Stelle. Man hat das Gefühl klassischer Battlerap ist nur eine Fingerübung für den ansonsten so exzentrischen Ausprobierer. Frei nach dem Motto kann man in so einer Posse-Nummer mal rausholen, für Solosachen aber zu langweilig. Schon ein Statement. 

3. Graffiti Anthem

Tighill ist aktuell einfach Adlip-King in Deutschland und damit auch ziemlich allein auf weiter Flur. Die Nummer kommt hörbar von Herzen, trumpft mit netten Referenzen auf und bounced einfach übertrieben. Skinnyblackboy testet eine neue Stimmlage und das mit ziemlich großem Erfolg.

4. Easy Living

Rückwurf in den Sommer, der eigentlich erst eine Woche her ist und trotzdem wie jedes Jahr schon wieder wie eine fast vergessene Erinnerung wirkt. Sollte ohne Frage Bestandteil sämtlicher Strand-, See- und Cabrio-Playlisten werden. Allerdings wirkt die Nummer auch ein wenig aus dem dreckig und chronisch schlechtwettrig portraitierten Bremen – und damit auch aus dem Album-Kontext – entrückt. Wobei ab und an ja sogar in der Hansestadt die Sonne scheinen soll. 

5. Klingelton

Die ETR-Kombo, die das Label 2017 auf die Deutschrap-Landkarte gesetzt hat, darf natürlich auch auf „Hafenwind“ nicht fehlen. Doubtboys Nuschel-Flow ist immer wieder ein Highlight. Dennoch stelle ich mir die Frage, ob ein Song wie „Klingelton“, der genauso schon auf den beiden Mixtapes von Tightill und Doubtboy hätte stattfinden können, wirklich auch im Kontext dieses Albums notwendig ist. 

6. Revue

Eigentlich ein klassischer Skinnyblackboy-Song. Es geht allein durch die Nacht, nachdenklich und leicht verscheppert. Genau so ein Song fehlte in meinen Augen seiner etwas glücklosen EP mit KitschKrieg. SBB schafft hier den Spagat zwischen Allgemeingültigkeit und individueller Erzählung mit Bravour, sodass „Revue“ einfach sehr relatable ist. 

7. Raubtier

Beim ersten mal klingt Tightills Hook noch recht gewöhnungsbedürftig, spätestens beim dritten Einsatz singt man laut mit. Und wie gut ist bitte allein der Neologismus  Raubtiertattoos“? Pro-Tipp an alle angehenden Tättowierer*innen: sichert euch den Namen schonmal bei Insta. 

8. Für Immer

Skinnyblackboy-Season in full effect. Der Jüngste der Truppe ist zum dritten Mal in Folge prominent platziert. Dieses Mal im TagTeam mit Jay Pop, eine der seltenen Kombos aus dem ETR-Universum, die es so glaube ich, noch nicht gab. Funktioniert ziemlich gut. Vor allem der Empfehlung Skinnyblackboys, sich zu von dieser (wunderbaren) Bassline treiben zu lassen, sollte dringend nachgegangen werden. 

9. Themesong

Pokemon: Die grün-weiße Bremen Edition. War zu erwarten, dass die Nummer, die schon auf der ETR-Tour hoch und runter gespielt wurde auch auf der Platte landet. Wahrscheinlich unumgänglich, trotzdem ein Kandidat, der in meiner zukünftigen Rotation vermutlich geskipt wird. Die erste Hälfte oder die A-Seite der Vinyl ist nach dem Track rum, da passt der „Themesong“ dann doch als Abschluss. Schon hier lässt sich sagen, dass Florida Juicy in der Konzeption der Platte sehr gute Arbeit geleistet hat. 

10. Möwe

Jay Pop holt den Vibe seines sehr unterschätzen „Oceanspray“-Tapes aus der Asservatenkammer. Lässt mein Herz als passionierter Jay Pop und vor allem „Oceanspray“-Fan höher Schlägen. Wieder eine Spitzen-Hook von Skinnyblackboy und endlich auch mal wieder ein Doubtboy Part! 

11. Sterngirl

„Ich bin ne dreckige Punkersau.“ Wie gut ist bitte dieser Einstieg von Tighill? Schöne, naive Ballade, gutes Storytelling und definitiv meine Lieblings-Single vorab. Und um das hier auch noch einmal stellvertretend für die gesamte Platte zu erwähnen: Kompliment an Florida Juicy für die durchweg starken Instrumentals. 

12. Timberlake

Man neigt ja – wie bereits erwähnt – immer dazu, zu vergessen, was für ein krasser Battle-Rapper Doubtboy bei all dem üblichen Weirdo-Wahnsinn eigentlich ist. Starke Vergleiche, gute Punches und vor allem nicht die üblichen 0815-Beleidigungen. Die zweite Strophe sticht dabei nochmal heraus. Die Doppeldeutigkeit zwischen maritimen Bildern und Geschlechtsakt-Anspielungen passt hervorragend.  

13. Zum letzten Mal verliebt

Und nochmal Doubtboy. Jetzt kommt endlich das lang erwarteten Brüder-Duett mit dem leider etwas in den Hintergrund getretenen Young Meyerlack. Florida Juicys Beat mit New Wave-Referenz ist genial. Allein die Dynamik im Wechsel vom Part in die melodische Hook und wieder zurück, macht extrem Spaß. Dazu singt Doubtboy den meiner Meinung nach besten Refrain der ganzen Platte. Spukt mir seit dem ersten Hören als Dauerohrwurm im Kopf rum. Ich hätte mir, das lässt sich allerdings auch schon auf einige vorangegangene Tracks münzen, mehr Interaktion innerhalb der Parts gewünscht. 

14. Water in my Legs

Die ganz große Pop-Nummer heben sich Skinnyblackboy und Florida Juicy für das Ende auf. Klingt für mich fast wie eine Reminiszenz an gemeinsame Band-Anfänge der Beiden. Skinnyblackboy hat auf „Hafenwind“ definitiv nochmal ein neues Level freigeschaltete, was Vielseitigkeit und auch Mut zu Gesang und Pop betrifft. Auch kommt hier endlich die unpeinliche Englisch-Deutsch-Mischung. Ein astreiner Pop-Song, der mit sämtlichen Radioformaten der Welt konkurrieren kann. 

15. 406

406“ macht das Album in bester Erotik Toy Records-Manier zu. Ich hätte mir tatsächlich noch einen Song mit der gesamten Mannschaft zum Abschluss gewünscht. So schließt „406“ in seiner Ruhe und durch den späten Einsatz der Drums dann aber einen gelungenen Bogen zum Intro. 

Fazit:

Im Endeffekt löst „Hafenwind“ fast alle Versprechen ein. Das Album ist mit Abstand das stringenteste Release der gesamten Gruppe und wahrscheinlich auch das am besten ausproduzierte. Der rote Faden mit Kulisse und Sound des Hafenbeckens zieht sich konsequent, aber unaufdringlich durch. Dabei geht die dreckige Punker-Attitüde im Sound etwas verloren, was die einzelnen Charaktere allerdings wunderbar abfedern. Ein glattgeschliffenes und seelenloses Major-Album ist „Hafenwind“ auf keinen Fall. Viel eher kommt mit der Platte eine ernsthafte Ambition in Richtung Pop durch, die – wenn man sich die ersten zwei Tighill und Doubtboy Mixtapes noch einmal vor Augen führt – wohl immer schon da war. Damals wie heute sind es die poppigen Songs wie „Sterngirl“, „Zum letzten Mal verliebt“ und „Water in my Legs“, die als Highlights neben den klassischeren Rap-Tracks herausstechen. In beiden Fällen erfinden die Erotik Toys das Rad nicht neu, besetzten aber lang festgefahrene Stereotypen in Rap und Pop mit neuen und innovativen Images. Ich hätte mir über das ganze Album hinweg dennoch mehr Interaktion untereinander gewünscht, sei es in einem geteilten Part oder durch direktere inhaltliche Bezüge zueinander. Abschließend muss wohl vor allem Florida Juicy als Produzent und Bindeglied von „Hafenwind“ ein sehr großes Kompliment ausgesprochen werden. Einer so eingeschworenen, aber dennoch diversen Gruppe ein so stringentes Konzept überzustülpen und dabei auch unerwartete und neue Ideen aus den einzelnen Mitgliedern herauszukitzeln, ist definitiv eine Kunst für sich. Ich bin gespannt, wie weit ETR ihren Weg in Richtung Pop und damit auch die Balance zwischen Erfolg und Innovation noch gehen können. „Hafenwind“ legt den Grundstein für eine Karriere, die weit über Rap hinausgeht, dessen Attitüde aber zweifellos im Herzen trägt. 8/10